HAVE 2/2022

Der neue Art. 60 Abs. 1bis VVG im Lichte des intertemporalen Rechts: Ein direktes Forderungsrecht für neue und alte Versicherungsverträge?

Ronald Pedergnana/Jan-Philip Elm, Seite 114

Mit Inkrafttreten des teilrevidierten Bundesgesetzes über den Versicherungsvertrag (VVG) per
1. Januar 2022 wurde dem geschädigten Dritten gemäss Art. 60 Abs. 1bis VVG ein direktes Forderungsrecht
gegenüber der Versicherung eingeräumt. Angesichts des unklaren Wortlauts von Art. 103a
VVG – der wohlgemerkt einzigen VVG-spezifischen Übergangsbestimmung – ist ein Meinungsstreit
über die Frage entbrannt, wie sich das neue Recht auswirkt: Gilt das direkte Forderungsrecht
lediglich für neue, das heisst nach Inkrafttreten des neuen VVG abgeschlossene Versicherungsverträge
oder gilt es ebenso für alte Versicherungsverträge, die noch unter dem bisherigen Recht abgeschlossen
worden sind? Vorliegend werden die verschiedenen Ansichten in Anlehnung an die Grundsätze der juristischen
Methodenlehre sowie anhand konkreter Fallbeispiele diskutiert. Die Autoren kommen hierbei
zum Ergebnis, dass das direkte Forderungsrecht nach Art. 60 Abs. 1bis VVG auf alle Versicherungsverträge
Anwendung finden muss, somit auch auf jene, die vor Inkrafttreten des teilrevidierten VVG
abgeschlossen worden sind.

Das ordentliche und ausserordentliche Kündigungsrecht gemäss Art. 35a und 35b VVG

Hardy Landolt, Seite 124

Mit Inkrafttreten der VVG-Teilrevision am 1. Januar 2022 wurde unter anderem ein ordentliches und
ausserordentliches Kündigungsrecht eingeführt. Art. 35a VVG sieht vor, dass der Versicherungsvertrag,
wenn er für eine längere Dauer vereinbart worden ist, auf das Ende des dritten oder jedes darauffolgenden
Jahres unter Einhaltung einer Frist von drei Monaten gekündigt werden kann. Eine
ausserordentliche Kündigung ist gemäss Art. 35b VVG jederzeit möglich, sofern ein wichtiger Grund
vorliegt. Das (ausser)ordentliche Kündigungsrecht ergänzt die besonderen Kündigungs- bzw. ausnahmsweise
Rücktrittsrechte gemäss dem VVG. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Entstehungsgeschichte
sowie dem Anwendungsbereich dieser neuen Kündigungsrechte und den Voraussetzungen
einer Aufhebung des Versicherungsvertrages aus wichtigen Gründen.

L‘expertise médicale et le jugement de renvoi pour instruction complementaire : aspects financiers et proceduraux

Jenny Castella, Seite 130

L’instruction des demandes de prestations des assurances-invalidité et -accidents requiert régulièrement
la mise en oeuvre d’expertises médicales. La présente contribution traite de la question des coûts et de la prise en charge de telles mesures, au regard notamment de leur étendue, de leur nature et du stade de la procédure à laquelle elles sont ordonnées. L’article distingue également les situations
exigeant la mise en oeuvre d’une expertise judiciaire de celles permettant de renvoyer la cause à
l’assureur social, pour instruction complémentaire, et expose, dans ce contexte, les possibilités (limitées)
de recours au Tribunal fédéral contre une décision de renvoi tant du point de vue des assurés
que des assureurs.

Tabellenlöhne im Sozialversicherungsrecht, wie weiter? Zusammenfassung und Würdigung der öffentlichen Urteilsberatung des Bundesgerichts 8C_256/2021 vom 9. März 2022

Kaspar Gehring/Christian Haag, Seite 141

Bei der Ermittlung des Invalideneinkommens anhand von Tabellenlöhnen wird in der bisherigen
Praxis der Invalidenversicherung in aller Regel auf den Medianlohn der TA 1 tirage_skill_level abgestellt.
Schon viele Jahre wird das Verwenden der LSE-Tabellenlohndaten als für die Bestimmung
des Invalideneinkommens ungeeignet und zu hoch kritisiert. Dazu wurden im letzten Jahr zwei wissenschaftliche Untersuchungen veröffentlicht. Gestützt auf diese Untersuchungen haben diverse
Rechtsvertreter von Versicherten in Verfahren auf allen Stufen tiefere Invalideneinkommen postuliert.
Zudem haben Betroffenenverbände und die universitäre Lehre (fast einhellig) öffentlich eine
Anpassung der bundesgerichtlichen Praxis gefordert. Mit dieser Frage hat sich das Bundesgericht
am 9. März 2022 unter grossem medialem Echo beschäftigt. Der Beitrag stellt die verschiedenen Positionen
innerhalb des Spruchkörpers dar, ordnet sie ein und versucht einen Ausblick.

Gibt es kein Justizrisiko?

Felix Hunziker-Blum, Seite 152

Ausgehend von der von Anwälten öfter gehörten gerichtlichen Vorhaltung «Sie sind ja anwaltlich vertreten!
» befasst sich der Beitrag mit der Frage, ob allein die Tatsache einer anwaltlichen Vertretung ein
eigenständiges Prozessrisiko für eine Prozesspartei mit sich bringt. Dass auch Justizorgane vor dem sog.
subjektiven Risiko nicht gefeit seien, dass Normzweck von Art. 55–57 ZPO die lösungsorientierte,
zielgerichtete und faire Leitung eines Kommunikationsprozesses durch die Gerichte sei, und dass die
erwähnte Vorhaltung sowohl die Fragepflicht als auch Treu und Glauben im Prozess verletzen, bringen
den Autor zur Folgerung, dass die zunehmend komplexen Prozessstoffe, die diversen Arbeitsweisen
und Leistungen von Gerichten aller Stufen eine Justizreform mit Schwergewicht «Arbeitsorganisation,
Kundenorientierung und Qualitätsmanagement» und eine Spezialisierung von Richtern mit seltenen
Prozessstoffen erfordern, was auch der Entlastung der oberen Instanzen dienen würde.

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