HAVE 5/2002

Die Rechtspflegebestimmungen des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)

Ulrich Meyer-Blaser, Seite 326

Das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 tritt mitsamt den Ausführungsbestimmungen (Verordnung über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts; ATSV) und einer Vielzahl geänderter Bestimmungen auf Gesetzes- und Verordnungsstufe nach jahrelangen Vorarbeiten auf den 1. Januar 2003 in Kraft. Einen Kernpunkt des Allgemeinen Teils bilden die Bestimmungen über die Rechtspflege (Art. 56–62 ATSG), welche eine weitgehende Vereinheitlichung des kantonalen Beschwerdeverfahrens auf dem Gebiet der Bundessozialversicherung bringen. Diese Rechtsharmonisierung beruht auf einer weitgehenden Kontinuität zum bisherigen Rechtszustand (System des Anfechtungsstreitverfahrens). Ausgenommen vom ATSG ist die kantonale Rechtspflege in der obligatorischen und weitergehenden beruflichen Vorsorge. Hier bleibt es beim Klageverfahren nach Art. 73 BVG.

De la renonciation aux prestations d’assurance sociale (art. 23 LPGA / ATSG)

Ghislaine Frésard-Fellay, Seite 335

Art. 23 des Bundesgesetzes über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG/LPGA) führt eine Bestimmung betreffend den Verzicht des Versicherten auf die Leistungen der Sozialversicherung ein, die auf die verschiedenen Versicherungsordnungen angewendet werden kann. Damit der Verzicht gültig ist, muss vom Versicherer einerseits eine schriftliche Bestätigung vorliegen, anderseits dürfen keine schädigenden Einwirkungen auf schutzwürdige Interessen anderer Personen, Versicherungs- oder Fürsorgeeinrichtungen vorliegen. Der Verzicht kann jederzeit widerrufen werden. Weiter muss der Verzicht von der betreffenden Sozialversicherung schriftlich bestätigt werden, soweit es sich um erhebliche Leistungen handelt. Wird ein Dritter für das schädigende Ereignis haftbar gemacht, so kann der Versicherte nicht gültig auf die Leistung der Sozialversicherung verzichten, um so direkt auf den Schädiger bzw. seine Haftpflichtversicherung Rückgriff nehmen zu können. Diesem Vorhaben steht die Rückgriffsordnung der Sozialversicherung (Art. 72 ATSG) entgegen.

Rentenschaden im Invaliditätsfall: Stand der Diskussion (Teil 2)

Bruno Schatzmann, Seite 342

Ein Personenschaden kann neben einem Erwerbsausfall in der Aktivphase zusätzlich im Rentenalter eine Einbusse bei den AHV- und Pensionskassenleistungen zur Folge haben. Das Bundesgericht hat diesem Rentenschaden ursprünglich durch Kapitalisierung der rentenbildenden Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitgebers Rechnung getragen und – zusätzlich – den Erwerbsausfall auf Basis des Bruttolohns berechnet. Diese Methode ist zwar einfach, die Einbusse im Rentenalter stimmt aber nicht zwingend mit der Höhe des Beitragsausfalls überein. Nötig ist daher eine konkrete Berechnung des mutmasslichen Rentenschadens, welche allerdings vertiefte sozialversicherungsrechtliche Kenntnisse erfordert. Konsequenz dieser Methodenwahl ist zudem die Berechnung des Erwerbsausfalls auf Basis des Nettolohnes, andernfalls eine Überentschädigung resultieren würde.

Vision Zero als Leitbild des Verkehrsopferschutzes

Stephan Fuhrer, Seite 352

Die vom Parlament am 4. Oktober 2002 verabschiedete Teilrevision des SVG und des VAG zielt auf den umfassenden Schutz des Verkehrsopfers. In der Schweiz besteht bereits ein gut ausgebauter Verkehrsopferschutz. Dennoch müssen einzelne Lücken geschlossen werden: Es fehlt insbesondere die Möglichkeit, im Ausland erlittene Verkehrsunfälle zuhause regulieren zu können. Die Teilrevision befasst sich mit der Umsetzung der Besucherschutzrichtlinie, der gesetzlichen Grundlage für die Integration der Schweiz ins europäische System und der Ausdehnung des Geltungsbereichs der Schutzmassnahmen auf reine Inlandfälle. Der nachfolgende Aufsatz befasst sich nach einer kurzen Darstellung der Entwicklung des Verkehrsopferschutzes mit der Revision und unterzieht deren Bestimmungen einer kritischen Würdigung.

Generalklausel für die Gefährdungshaftung

Bernhard A. Koch / Helmut Koziol, Seite 368

Die Haftung für Gefahrenquellen ist in den europäischen Rechtsordnungen derzeit höchst unterschiedlich geregelt. Neben weitgefassten Generalklauseln wie in Frankreich finden sich in den meisten Ländern nur punktuelle Sonderregelungen für bestimmte Risiken. Soweit die von diesen Einzeltatbeständen offen gelassenen Lücken nicht mit Analogie geschlossen werden können, kommt es zu einer äusserst unbefriedigenden Ungleichbehandlung von vergleichbaren Risiken. Der Schweizer Entwurf zu einer Gesamtrevision des Haftpflichtrechts schlägt zur Lösung dieses Problems eine Generalklausel vor, die international als vorbildhaft gelobt wird. Im Folgenden werden Vorschläge zu einer Rechtsvereinheitlichung in Europa sowie zu einer Reform des österreichischen Haftpflichtrechts vorgestellt, die zumindest teilweise diesem Schweizer Vorbild folgen.

Kapitalisierungszinsfuss 3,5%: Das Ende einer Illusion

Max Sidler, Seite 388

Im Entscheid BGE 125 III 312 hat bekanntlich das Bundesgericht einmal mehr mit drei zu zwei Stimmen am bisherigen Kapitalisierungszinsfuss von 3,5% festgehalten, weil eine Änderung einer Rechtsprechung sich nur rechtfertige, wenn sich dafür hinreichend ernsthafte Gründe anführen liessen. Die Gründe, die gegen die bisherige Praxis und zugunsten einer neuen Betrachtungsweise sprächen, müssten insgesamt gewichtiger sein, als die nachteiligen Auswirkungen, welche die Praxisänderung insbesondere auf die Rechtssicherheit habe. Die bisherige Praxis sei deshalb nur zu ändern, wenn hinreichend sichere Anzeichen dafür bestünden, dass ein Realertrag von 3,5% auf Kapitalabfindungen in absehbarer Zukunft nicht realisierbar sei und sich mit hinreichender Gewissheit sagen lasse, dass der seit 1946 geltende Kapitalisierungszinsfuss mit dem Grundsatz des vollen Schadenausgleichs nicht zu vereinbaren sei.

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